Mirko

OrtDeutschland

IM SIEBTEN HIMMEL

Als ich noch ein kleiner Junge war, sah ich im Kino mein Traumhaus: bewohnt vom Tarzan. Und so beschloss ich eines Tages es nachzubauen, mit meinen Kräften und Möglichkeiten. Hoch sollte es über den Köpfen der anderen Kinder im Apfelbaum schweben und nur mir gehören.

Das Baumhaus meiner Kindheit hat der alte Apfelbaum längst abgeworfen, ich bin um Jahrzehnte älter geworden, aber das Gefühl, auf der kleinen Terrasse zwischen Himmel und Erde zu stehen, das ist so übermächtig wie damals, als ich mein erstes Traumhaus sah. Ein Schloss in den Wolken ... Die uralte Sehnsucht, sich in einen Baum zurückzuziehen und damit sozusagen vom Erdboden abzuheben, ist immer wach geblieben ... Und ich bin, ehrlich gesagt, froh darum, dass der Architekt Andraes Wenning und der Zimmermann Helmut Rauter es jetzt aus beständigerem Material bauen, als es Tarzan seinerzeit tat. Für meine Enkel als auch für mich.


HOTEL ZUR AMSEL

Vogelige Gedanken hier oben 17 Meter über dem Erdboden, was in meinem Falle auch 17 Meter über Normalnull und vielleicht 17 Meter über normal bedeutet. Eine leichte Form von Bangnis würde ich es nennen. Irgendetwas zwischen Angst und Irritation. Womöglich auch eine milde Art der Klaustrophobie, immerhin bin ich schon etwas in den Jahren. Formal erinnert das Objekt im Baum an ein UFO, sieht ein bisschen wie ein (T)Raumschiff aus, das sich bei der Landung in den Ästen verfing. Solchen technoiden Assoziationen widersprechen allerdings die handwerkliche Machart und das Material: witterungsbeständiges, heimisches Holz. Es riecht nach Holz, nach herrlich verarbeitetem Holz. Mein Bett ist ein Himmelbett.
Mit einem himmlischen Ausblick! Vor allem der aus der Dachluke durch das Geäst in den Himmel lädt ein zum Träumen. Durch ein langes Seitenfenster neben dem Bett fällt der Blick auf eine junge Esche, die sich im Glas spiegelt, auf die Silbertanne und mein Haus mit der Glasfassade. Die Innenwände sind aus der Kärntner Lärche, wie übrigens das ganze Haus. Innen ist es ausgestattet wie eine Kajüte. Mit einem Klapptischchen und – ganz kompakt – mit einer großen Liege und Schubladen darunter. Bloß keine Möbel – die gehören auf den Boden, nicht auf den Baum! -Es gibt da genügend Licht zum Lesen, man kann hier oben Kaffee kochen und Musik hören. Eine Flasche Mineralwasser, einige Gläser, die Kühltasche. Das große Panoramafenster vorn bietet eine atemberaubende Aussicht auf den gegenüberliegenden Mirnock, dessen perfekt geformte Kuppe sich im Wasser des Millstätter Sees spiegelt.


SEE-LIGKEIT

Der Blick von oben ist phantastisch. Unter mir leuchtet der See im reinsten Blau, funkelnd wie ein riesiger Smaragd. Fichten streben an den sanft abfallenden Hängen des Hochgosch dem Wasser zu. Das Wasser glitzert und die Segel leuchten einladend.

Wonach es hier oben riecht? Nach Bäumen, nach dem See, ja, es riecht nach Kindheit am Wasser. Die Aussicht ist schön, wunderwunderschön: weit, blaugrünes Wasser, weiter hinten Ruderboote, Segelboote, ein Dampfschiff für die Sommerfrischler. Die Kärnten zieht ihre Runde, Menschen darauf, Finger zeigen in die Gegend, sieh mal hier, ja, dort...
Nachmittag im Bauhaus. Und? Herrlich! Kindheit wieder da. Die Seeluft riechen, sehen, wie die Wipfel der Bäume wackeln, hören, wie Autos durch den Ort rauschen, Autobahngeräusch aus der Ferne – alles deutlich, klar in der wipfelklaren Luft.
Die Sonne versinkt hinter dem fernen Salzkofel. In Seeboden unter mir quietschen Mädchen und Reifen. Es kräht ein Hahn. Die Lage ist paradox: Seeboden ist der größte Touristen-Ort am See – und doch bin ich allein.

Der See glänzt so still, der Himmel ist wie ein Beet voller dunkler Veilchen, und auf den Uferwiesen blühen die Kirschbäume im letzten Licht. Alles ist so herrlich leicht und ohne Erdenschwere. Der weite Horizont lädt ein zu erkunden, was wohl dahinter liege, wächst Sehnsucht nach Neuem, nach Veränderung, nach innerem Neubeginn. Wolken türmen sich. Ein Käfer schwebt vorüber. Ich öffne das große Fenster, ein leichter Wind weht herein. Das Baumhaus schaukelt, knarrt und knispelt, es sind die Geräusche eines alten Holzbootes. Lieder kommen mir in den Sinn, nicht zu Ende Gedachtes, dummes Zeug. Warum leben nicht alle Menschen auf Bäumen? Was, wenn ich nicht mehr runter wollte? Fort sind die Sorgen um Höhe und Tiefe. Es geht hier um Höheres, um Sterne, um Frisches, Atmendes, Wachsendes, meine Welt sind die Wipfel.
Dachluke. Eine Sternschnuppe. Der endlos schöne Moment ist schnell vorbei. Schwarze Nacht. Und ich warte sehnsüchtig auf eine Wiederkehr. Den Morgen. Was kann schöner sein, als sanft von Vogelgezwitscher und Blätterrauschen geweckt zu werden? Für einen Moment schließe ich noch einmal die Augen, breite die Flügel aus, lausche dem Spiel des Windes, und träume...
Ich bin der Hausherr allein hier oben. Mein Haus auf dem Baum lebt mit dem Baum und mit mir. Wenn mal der Wind um die Ecken pfeift, ächzt und schwankt es ein wenig. Wie ein Schiff. Und wenn es blitzt und donnert, atmet das Haus auf, als ob es die Unbilden der Natur abschütteln möchte wie der Baum, an dem es steht, wie ein Hund das Nass von seinem Pelz.
Meine Enkel werden jetzt nicht allein virtuell, sondern hautnah erleben können, wie es ist, wenn es rundherum blitzt und schneit oder die Sonne scheint. So ist der Übergang zwischen Drinnen und Draußen fließend gestaltet, Fensterfronten und Dachfenster geben den Blick frei, und die Kinder können, wenn sie wollen, leben wie der Baum, sie können mit ihm gleichsam schrumpfen und wachsen - sich in Freiheit zurückzuziehen in Stille und Geborgenheit. Und sie haben die Möglichkeit, sich in der sonst unzugänglichen Natur ausleben zu können.

Da haben sie einen Ort, wohin sie sich zurückziehen und Abstand von den Erwachsenen mit ihren Launen bekommen können. Hier oben können sie in Ruhe nachdenken, Ärger und Enttäuschungen verdauen, neue Streiche aushecken. Oder auch Freunde einladen, die wichtigen Dinge im Leben besprechen oder Geheimnisse austauschen, sofern sie es nicht vorziehen, diese nur mit ihrem Baum zu teilen.

Das macht auch den Reiz eines Baumhauses aus: das man sich in der Luft verstecken kann, hinter Ästen und Laub, sich schützen vor wilden Tieren und ebensolchen Menschen – der Erde enthoben, dem Himmel so nah. Das Baumhaus wird zum magischen Teppich, auf dem man sich in abenteuerliche Fantasiewelten träumen kann.


ABGEHOBEN

“Andere Räume“ heißt ein Text von Michel Foucault, der einflussreich für den Raumdiskurs der letzten Jahrzehnte war. Dort ist die Rede von Orten außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.

Auch mein Baumhaus ist so ein Alltags-Gegenpol: So konkret sein Ort in einem real existierenden Baum ist, so - im Wortsinn - abgehoben ist das Haus, ein Haus (oft ohne Fundament), gleichwohl verwurzelt. Für mich ein Kindheitstraum von Freiheit und Geborgenheit.

So habe ich mir den Traum vom open air living noch einmal erfüllt. Ich klopfe dem Baum auf die Borke: Danke, alter Freund! Danke Andraes Wenning, danke Helmut Rauter! Zurück zu den Wurzeln kann auch heißen: Hinauf auf die Bäume!

Mirko Bogataj Seeboden

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